Der Herd

„Hast du die Pässe?“ Stefan kam aus der Wohnung, die Tasche auf dem Rücken. Der Taxifahrer öffnete ihm den Kofferraum und half, das Gepäck zu verstauen. Laura klopfte auf die Tasche, wo sie die Dokumente verstaut hatte.

„Hast du abgeschlossen?“

„Jepp“, sagte Stefan und warf ihr die Wohnungsschlüssel zu. Laura schmiss sie in die Handtasche. Stefan stieg auf dem Beifahrersitz ein, Laura nahm auf der Rückbank Platz. Die Mittagssonne brannte auf das Taxi, innen herrschten Saunatemperaturen. Sie schnallte sich an und Stefan ließ den Taxifahrer wissen, dass sie zum Flughafen wollten.

Es sollte ein schöner Urlaub werden. Drei Wochen Mallorca, Sonne satt und Sand in Lauras Schuhen.

„Wir sind etwas spät dran.“

„Kein Problem“, erwiderte der Fahrer und ließ den Motor an. Stefan drehte sich über den Sitz nach hinten. Er trug bereits seine Sonnenbrille und das bunte Strandhemd, das er extra für Mallorca gekauft hatte.

„Sind wir startklar?“

Im Kopf ging Laura die Liste durch, die sie für den Urlaub angefertigt hatte. Als Frau im Haus fiel ihr die glorreiche Aufgabe der Ferienplanung in den Schoss. Sie machte gedanklich Haken an jeden einzelnen Eintrag, den sie angelegt hatte: Pässe waren da, Geld auch; abgeschlossen hatten sie, den Ersatzschlüssel hatte die Nachbarin, Heizung und Strom waren abgestellt, eine Zeitung hatten sie nicht abonniert; Pedro war in der Katzenpension untergebracht, die Impfpässe hatte sie außen an den Carrier geklebt; bei der Arbeit hatten sie sich beide abgemeldet, man würde sie vermissen, aber einen Urlaub hatte sie sich redlich verdient. Sogar dem Postboten hatte sie Bescheid gegeben. Alles, was sie gestern Abend vergessen hatte zu packen, konnten sie auch in Palma kaufen. Wahrscheinlich war es dort günstiger.

Check, check und check. Warum hatte Laura dann trotzdem das Gefühl etwas vergessen zu haben?

„Startklar“, sagte sie und lehnte sich zurück. Stefan nickte zufrieden, dann bat er den Fahrer loszulegen. Er fragte, ob er das Radio anmachen dürfe, was der Fahrer bejahte und Stefan fing an, nach einer passenden Station zu suchen. Als sie an der Kreuzung am Straßenende waren, summte er bereits zu einem karibischem Reggeamix mit.

Laura seufzte. Wie herrlich es sein würde, drei Wochen einfach nichts zu tun. Endlich konnte sie mal entspannen, musste nicht ständig unter Strom stehen, weil sonst ein Chaos ausbrach. In der Kanzlei rannte sie ständig von einem Fall zum nächsten, abends wälzte sie die Bücher, um das Jura zu machen. Wenn sie sich den kleinsten Patzer erlaubte, konnte es sein, dass ihr gesamtes Leben über die Klippe sprang. Stefan zog sie damit ständig auf, meinte, sie solle sich mal locker machen. Das konnte er sich vielleicht in der Werkstatt erlauben, aber nicht Laura.

Wachsame Laura, immer ein Auge offen, bereit für jede Katastrophe.

Was hast du vergessen?

Laura gähnte und rieb sich die Stirn. Ihr war so heiß in dem Taxi, dass sie in der Unterhose schwitzte. Sie rutschte auf dem Kunstleder herum, auf der Suche nach einer bequemen Sitzposition, doch fand keine. Ihr Magen grummelte, als rollten Steine darin. Der Sicherheitsgurt schnitt ihr die Luft ab.

„Wenn wir Glück haben“, sagte Stefan über die Musik, „bringen wir den Check-In schnell hinter uns. Willst du dann am Flughafen noch einen Kaffee trinken?“

Kaffee! Scheiße.

Laura wurde blass. Das war das Stichwort gewesen, jetzt wusste sie wieder, was sie vergessen hatte.

„Alles ok bei dir?“ Stefan sah ihr über den Rückspiegel ins Gesicht. Er wirkte besorgt. „Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.“

„Alles prima“, sagte Laura. „Nur ein bisschen müde.“

Stefan nickte.

Derweil überlegte Laura, ob sie den Herd angelassen hatte.

Das Taxi fuhr die Autobahnauffahrt hoch und der Fahrer drückte aufs Gaspedal. Stefan genoss den Geschwindigkeitsschub. Der kleine Adrenalinkick munterte ihn auf, genug, dass er das Radio aufdrehte und einen Song mitsang, der ihm gefiel. Laura stimmte mit ein, sie wollte die gute Laune nicht unterbrechen. In Gedanken hing sie woanders.

Hatte sie den Herd nun angelassen? Oder nicht?

Laura biss sich auf die Lippe. Alles lief auf die Frage hinaus, ob sie heute morgen Kaffee getrunken hatten. Seit ihre DeLonghi letzten Monat den Geist aufgegeben hatte, kochte sie den Kaffee morgens immer auf dem Herd auf. Doch was war heute gewesen? Sie konnte sich an den Fernseher erinnern, ans Morgenmagazin und das pausenlose Gähnen, das sie versucht hatte zu unterdrücken. Sie war schon vor Sonnenaufgang auf den Beinen gewesen, um alles notwendige zusammenzupacken, die Wohnung auf Klarschiff zu bringen, damit Stefan einen schönen Urlaub haben konnte. Ihr Freund war spät von der Werkstatt zurückgekommen und sofort ins Bett gefallen. Sie machte jeden Morgen Kaffee, doch heute war ein besonderer Tag, der erste ihres gemeinsamen Urlaubs und – oh Gott, ja! – sie hatte Kaffee gekocht und den Herd nicht ausgeschaltet!

Oder?

Stefan drehte sich im Sitz zu ihr um und erzählte, dass er nach der Landung direkt zum Strand fahren wollte. Das Hotel konnte warten, er sehnte sich danach, seine Füße ins Meer zu halten. Laura nickte, „alles was du möchtest, Schatz“, und fixierte ein Haus in der vorbei schnellenden Landschaft.

Kalte graue Angst kroch aus ihrem Bauch. Sie erinnerte sich an eine Geschichte, die sie letztes Jahr in der Kanzlei erlebt hatte. Ein griechischer Restaurantbesitzer war mit seiner Familie nach Santorini geflogen und hatte vergessen, die Fritteuse in der Küche abzuschalten. Eine Woche lang hatte die Fritteuse gelaufen, bis plötzlich das Stromkabel durchgeschmort und die Maschine Feuer gefangen hatte. Auf dem festgesetzten Fett hatten sich die Flammen wie auf Zunder ausgebreitet und es hatte nur Minuten gedauert, erklärten die Sachverständigen später, bis das gesamte Restaurant brannte. Weil der Besitzer fahrlässig gehandelt hatte, weigerte sich die Versicherung zu zahlen. Er musste den Laden schließen und Konkurs anmelden.

„Hey, alles ok bei dir?“

Stefan stieß ihr gegen das Knie und grinste sie an. Es lag ihr auf der Zunge, etwas zu sagen, doch sie konnte nicht. Sein glückliches Gesicht, das Strahlen in seinen Augen, sie brachte es nicht übers Herz. Schlimmer noch: die Diskussion, die folgen wurde. Stefan hatte es längst vergessen, aber Laura konnte sich noch gut an Holland erinnern. Oh Gott, Holland – was für ein Debakel! Zwei Wochen, die sie in kaltem Schweigen verbracht hatten, nur weil Laura Panik wegen der Miete geschoben hatte. Am Ende hatte sie Recht behalten, Stefan hatte das Geld eben doch nicht überwiesen. Aber das hatte ihn nicht abgehalten Wörter wie „Zwangsstörung“ und „Kontrollwahn“ zu benutzen. Die Vermieterin hatte den Zahlungsverzug zwar nicht bemerkt, aber das war nicht der Punkt. Auf der Klimax ihres Streits hatte Stefan ihr das Wort mit „T“ an den Kopf geworfen – Therapie. Was für ein Unsinn.

„Ich bin ein bisschen müde“, erklärte Laura und zwang sich, sein Lächeln zu erwidern. Stefan nickte und sagte, sie solle sich ausruhen – bald schon würden sie am Strand liegen und die Sonne genießen.

„Ja“, sagte Laura und wollte ihm glauben. Ja, wiederholte sie in Gedanken und kam plötzlich auf eine verrückte Idee: Was, wenn sie sich das alles bloß einbildete?

Stefan war nicht der einzige, der in den letzten Monaten zu viel gearbeitet hatte. Laura schob jeden Tag in der Kanzlei Überstunden, es gab mehr Fälle zu bearbeiten, als ihr Chef verhandeln konnte. Sie hatten sogar neue Regale bestellen müssen, um die ganzen neuen Akten unterzubringen. Es schien mehr als möglich, dass sie einfach überarbeitet war, schließlich musste sie sich um alles kümmern, alles planen, nicht nur den Urlaub, nein, auch den Urlaub ihres Chefs. Wäre es da nicht völlig verständlich, wenn Laura jetzt, wo der Stress vorbei war, ein wenig übersensibel reagierte?

Der Taxifahrer setzte den Blinker und zog auf die Überholspur. Laura schaute aus dem Fenster und sah im Wagen neben ihnen eine Familie, die fröhlich zum Radio mitsang. So oder so ähnlich hatte auch der griechische Restaurantbesitzer sich fühlen müssen, als er mit seiner Familie in den Urlaub gefahren war: Fünf Menschen, die den Alltag hinter sich lassen und losgelöst den Aufbruch in ein Abenteuer wagen. Keiner ahnte, dass das eigentliche Abenteuer gerade zuhause stattfand. Hatte Laura erwähnt, dass der Restaurantbesitzer sich Anfang des Jahres das Leben genommen hatte? Nein, den Teil hatte sie unter den Tisch fallen lassen. Warum bloß? Passte ihr dieser kleine Happen Information etwa nicht in den Kram?

Halt den Mund, zischte sich Laura in Gedanken zu. Schluss jetzt, konzentriere dich gefälligst.

Stefan öffnete das Fenster und hielt seine Hand in den Fahrtwind. Nebenan quetschte sich eines der Kinder an die Scheibe und schnitt Grimassen. Stefan winkte dem Kind, sie winkten zurück und lachten. Hach, wie herrlich, seufzte ihr Freund. Ausnahmsweise schien die Welt einmal wieder im Lot zu sein.

Ein Informationshäppchen, das Laura ebenfalls ausgespart hatte, war die alte Frau in der Etage über dem Restaurant. Sie war es gewesen, die den Notruf alarmiert und die anderen Nachbarn gewarnt hatte. Als die Flammen aus dem Restaurant unter ihr die Fensterfront zum Einsturz brachten, lotste sie gerade die jungen Leute aus der WG über sich durch das Treppenhaus, bis alle in Sicherheit waren. Sie wollte nur schnell noch ihre Katze holen und ein paar Andenken vor den Flammen retten, als das Feuer den Flur erreichte. Aus den Zeugenaussagen wusste Laura, dass die alte Frau zum Schluss noch versucht hatte, aus dem Fenster zu klettern. Leider kam die Feuerwehr zu spät und die Frau stürzte aus dem dritten Stock in den Tod.

Alles wegen einer vergessenen Fritteuse. Oder einem Herd.

Ob ihre Nachbarin Frau Elstner fit genug war, aus einem Fenster zu klettern?

Halt. Den. Mund.

„Ist wirklich alles ok?“ Stefan sah sie besorgt an. „Du siehst ein bisschen krank aus.“

„Hatten wir heute morgen Kaffee?“

Stefan überlegte. „Klar, ich glaube schon. Wieso?“

Laura hielt die Luft an. „Nichts. Kann sein, dass die Milch schlecht war. Mein Magen ...“

„Oh.“

Stefan kratzte sich am Kopf. Wahrscheinlich überlegte er, was er sagen sollte, doch ihm fiel nichts ein. Das richtige wäre gewesen, ihr anzubieten, dass sie umdrehen, falls es ihr nicht gut ging. Doch diese Option existierte nicht. Ihr Flieger ging in einer Stunde und wenn sie den verpassten, setzten sie eine stolze Summe Geld in den Sand. Nicht zu sprechen von dem Urlaub, den sie beide dringend nötig hatten.

„Shit!“, rief Laura plötzlich. Sie war davon genauso überrascht wie Stefan und der Taxifahrer. Es war einfach so über sie gekommen, ganz unbeabsichtigt, wie eine Explosion in ihrem Mund. „Fuck“, fügte sie hinzu, mehr zu sich selbst als sonst etwas.

„Was denn?“, fragte Stefan. „Was ist los?“

„Ich hab was vergessen“.

„Was wichtiges?“

„Mein, äh ...“ Laura überlegte. „Mein Badeanzug! Ja!“

„Du alberner Zwerg, du“, lachte Stefan und drehte sich wieder im Sitz um. „Ich kauf dir einfach einen neuen, das ist gar kein Problem. Entspann dich, alles wird gut.“

Laura wusste, dass sie jetzt die Klappe halten musste. Stattdessen beugte sie sich nach vorne zu Stefan und sagte: „Können wir kurz umdrehen?“

„Was?“ Stefan schüttelte den Kopf. „Auf keinen Fall.“

„Es geht ganz schnell, versprochen.“

„Nein!“

„Wir liegen gut in der Zeit, Schatz.“

„Wenn wir den Flieger verpassen, Laura, ist der Urlaub im Arsch.“

„Willst du mich etwas nicht im Badeanzug bewundern, mein Engel?“

„Ich kauf dir einen neuen!“

„Ach“, machte Laura, „diese Billigdinger zieh ich nicht an. Die kratzen und man bekommt Ausschlag an den unschönsten Stellen. Ich beeile mich, versprochen.“

„Laura...“

Laura verstand nicht, was in sie gefahren war, aber sie hatte einen Zwanzig-Euroschein in der Hand und gab ihn dem Taxifahrer. „Sie schaffen das schon, oder? Einmal kurz zurück?“

Der Fahrer zuckte mit den Schultern, als wolle er sagen, es sei ja nicht sein Flieger. Dann sah er fragend zu Stefan, der ungläubig seine Freundin betrachtete. „Na gut“, sagte er schließlich. „Wenn‘s schnell geht ...“

Das Taxi setzte einen Blinker und nahm Kurs auf die nächste Abfahrt. Laura fühlte das Adrenalin durch ihre Venen pumpen. Nur kurz in die Wohnung schauen, das war alles. Der Badeanzug lag hinten im Koffer, aber das wusste Stefan ja nicht. Sie würde einfach ein Handtuch mitnehmen und so tun, als hätte sie ihn darin eingewickelt. Alles kein Problem. Nur ein paar Minuten. Der Flieger würde schon nicht ohne sie abheben.

Dann bog das Taxi auf die Abfahrt und der Fahrer stieg in die Eisen, als an das Ende des Staus fuhr, der sich vor ihnen erstreckte.

„Fuck.“

Der Stau kostete sie fünfzehn Minuten. Zwei Autos hatten sich beim Linksabbiegen gerammt und die Polizei hatte die Unfallstelle abgesperrt, sodass der Verkehr an der Ausfahrt einspurig weiter laufen musste. Ein Krankenwagen kam dazu, offenbar um die Fahrer des vorderen Wagens zu verarzten, der sich beim Aufprall ein Schleudertrauma zugezogen hatte. In Gedanken sagte sich Laura, dass ihr so etwas nicht passiert wäre. Sie achtete penibel auf jede Gefahr, real oder eingebildet. Als das Taxi endlich die Unfallstelle passierte, erhaschte sie einen Blick auf die Fahrerin des Wagens, das den Aufprall verursacht hatte. Ihr Herz zog sich zusammen. Sie fühlte sich schlecht. Die Frau weinte auf offener Straße, während ihr Freund sie vor den Augen aller anschrie und sie wohl eine dumme Kuh nannte.

Das würde ihr auch bevorstehen, wenn sie den Flieger verpassten.

„Ich nehme an, das mit deinem Badeanzug hat sich erledigt?“ Stefans Stimme war gepresst. Er schaute sie nicht an, nicht mal über den Rückspiegel. Laura bejahte. Der Fahrer murmelte etwas, lenkte den Wagen dann wieder auf die Autobahn und drückte aufs Gas. Das Taxi gewann an Geschwindigkeit, der Fahrtwind blies laut durch den kleinen Fensterschlitz, den Laura offen gelassen hatte, um atmen zu können.

Brannte die Wohnung schon? Laura stellte es sich vor. Sie hörte Feuerwehrsirenen in der Ferne singen. Sie brauchte bloß ein Wort sagen und das Chaos wäre gebannt.

Es lag ihr auf der Zunge. Vielleicht würde Stefan ja Verständnis haben. Sie meinte es nicht böse, sie machte sich bloß Sorgen. Dann erinnerte sie sich an Holland. Zwangsstörung, Kontrollwahn. Was für Begriffe. Vor dem Stau, ja, da hätte sie etwas sagen können. Aber jetzt? Stefans Stimmung glich einem Pulverfass, das nur auf den passenden Funken wartete.

Nein, dachte Laura, sie musste es alleine regeln. Sie kramte ihr Telefon aus der Tasche und fing an, eine Nachricht zu tippen. Klara würde ihr helfen. Sie besaß einen Schlüssel für die Wohnung und konnte nachsehen. Sie befand sich auf der Arbeit und würde meckern, doch Laura wusste, wie man ihre Knöpfe drückte. Schließlich schuldete sie ihr noch einen Gefallen.

Kaum hatte Laura angefangen, die Nachricht zu schreiben, erreichten sie den Flughafen. Stefan stürzte aus der Tür und eilte zum Kofferraum. Er warf die Taschen auf die Straße, damit Laura sie aufhob, während er sich um den Taxifahrer kümmerte.

„Geh schon mal zum Check-In!“

„Ja, sofort!“

Lauras Hände schwitzten. Die Sonne knallte ihr auf den Kopf und es fiel ihr schwer, sich zu konzentrieren. Wenn man mit Klara sprach, musste man die Worte mit Bedacht wählen. Ihre Freundin ließ sich zu allem überreden, man musste nur wissen, wie. Laura setzte ihren Rucksack auf und schulterte Stefans Reisetasche, während sie mit der freien Hand über das Display rutschte.

Verdammte Smartphones, warum gab es keine Handys mehr mit fester Tastatur? Damals in der Schule hätte sie blind eine Nachricht schreiben können, alleine durch das Befühlen der Tasten.

„Komm schon, beeil dich!“ Stefan rauschte an ihr vorbei und rannte über die Straße zum Eingang des Flughafens. Ein anderes Taxi ging vor ihm in die Eisen, der Fahrer hupte genervt. Laura konnte sehen, wie Stefan den Impuls bekämpfte, sich mit ihm zu prügeln. Er war kein aggressiver Mann, aber wenn er gestresst war, reagierte er gereizt wie ein hungriger Köter.

Laura ließ das Taxi passieren. Stefan winkte ihr, dass sie sich beeilen sollte, doch Laura nutzte die Sekunden, um den letzten Halbsatz zu Ende zu bringen. Als sie den Zebrastreifen überquerte, drückte sie auf senden.

Ihr Handy gab ihr Bescheid, dass die Nachricht nicht versandt werden konnte.

„Fuck!“

„Was machst du?“, fragte Stefan. „Wem musst du gerade jetzt schreiben?“

„Niemandem“, erwiderte Laura. „Bin sofort soweit.“

„Können wir uns bitte darauf konzentrieren, den Flieger zu kriegen?“

„Ja, Sekunde.“

Laura drückte zum zweiten Mal auf Senden, doch ihr Handy wollte nicht. Das Flughafenfunkloch verschluckte ihre Nachricht.

„Komm, lass das jetzt sein!“ Stefan riss ihr das Handy aus der Hand und steckte es in seine Tasche. „Hast du die Pässe bereit?“

Laura fühlte sich wie vom Blitz getroffen. So kannte sie Stefan nicht. Er konnte ihr doch nicht einfach das Handy aus der Hand reißen?

Als sie zum Check-In kamen, wippte Stefan ungeduldig mit den Füßen. Die junge hübsche Frau am Schalter begrüßte sie mit einem eingeübten Lächeln. Stefan schob die Tickets über den Tresen. Laura schob die Pässe hinterher.

„Oh“, sagte die Frau mit sorgenvollem Stirnrunzeln. „Da müssen sie sich aber beeilen.“

„Ich weiß“, sagte Stefan zähneknirschend. „Nicht mein Verdienst.“

Laura hörte die Bemerkung zwar, beschloss aber, sie zu überhören. Sie hatte andere Prioritäten.

„Kann ich bitte mein Handy wiederhaben?“

„Hat das nicht Zeit?“ Stefan hievte die Koffer auf die Waage am Schalter. „Ich brauche dich jetzt konzentriert und bereit, Schatz.“

„Wenn du mir nicht sofort mein Handy gibst, Stefan, schreie ich.“

Stefan stöhnte. Dann gab er ihr das Telefon zurück und wippte weiter mit den Füßen, ungeduldig, weil die Waage sich nicht über das Gewicht ihres Gepäcks einig werden konnte.

„Ich fürchte, sie müssen nachzahlen“, sagte die Frau am Schalter. „Sie sind über Maximalgewicht.“

„Shit“, sagte Stefan und zog sein Portemonnaie.

Laura ignorierte ihn.

Stefan hatte mit seinen Patschefingern die halbe Nachricht gelöscht, als er ihr das Handy genommen hatte. Das musste sie jetzt geradebiegen. Sie rekonstruierte die Nachricht und wollte gerade wieder auf Senden drücken, als Stefan sie am Arm fasste und mit sich riss. „Komm jetzt, sie rufen den Flieger schon auf!“ Aus den Lautsprechern in der Halle drang eine gelangweilte Stimme, die ihre Flugnummer nuschelte. „Hast du die Pässe eingesteckt?“

„Ja, ja“, sagte Laura und folgte ihrem Freund, der über den glänzenden Flughafenboden vor ihr huschte.

Verdammter Stefan. Alles hatte er durcheinander gebracht. Sie musste wieder an Frau Elstner denken und das Feuer, das in dieser Sekunde in ihrer Wohnung loderte. Würde Sie den Rauch früh genug riechen? Oder würde sie denken, ihr kranker Mann habe heimlich Zigaretten gepafft? Was, wenn Klara zu spät kam? Dafür musste sie erstmal die Nachricht abschicken. Verdammtes Funkloch!

„Komm jetzt!“

Laura folgte der Stimme ihres Freundes und drehte nach rechts ab. Sie nahm dabei die Augen nicht vom Display. Dazu hatte sie keine Zeit. Stefan sollte sich nicht so anstellen. Der Flieger würde schon nicht ohne sie abheben. Endlich hatte sie die Nachricht fertig. Sie wollte auf Senden drücken, als eine Explosion sie von den Füßen riss. Das Handy glitt ihr aus der Hand und fiel auf den Boden. Sie verstand nicht, was passiert war, da setzte der Schmerz ein. Ihr Kopf fing an zu pochen. Eine Gestalt vor ihr ging zu Boden, sie spürte eine heiße Flüssigkeit auf ihrem Shirt, die auf ihrer Haut brannte. Die Gestalt vor ihr schrie und schimpfte, da realisierte sie den Mann, den sie gerammt hatte vor sich.

„Hast du keine Augen im Kopf?“

Der Kerl saß mit dem Hosenboden auf den Fliesen und rieb sich den Kopf. Sein Anzug war mit Kaffee bekleckert, sein Gesicht war rot angelaufen und sein Mund spuckte Beleidigungen in ihre Richtung.

Scheiße, dachte Laura, auch das noch.

„Dumme Kuh!“, rief der Mann im Anzug und rappelte sich auf. Er ging sofort auf Laura los, doch Stefan stellte sich vor sie wie ein Schild.

„Pass auf, Kollege“, sagte er. „So redest du nicht mit meiner Frau!“

„Die soll besser gucken, wo sie hinläuft!“

„Scheiße passiert. Komm, mach nen Abflug jetzt!“

Stefan half ihr auf die Beine. Der Typ im Anzug schimpfte in einer Tour, doch Stefan hatte ihn eingeschüchtert. Unter den Augen der anderen Flughafengäste suchte er das Weite, etwas von einem Anwalt und Reinigung murmelnd.

„Alles klar bei dir?“

„Ja ...“ Laura fühlte sich schwindelig.

„Das gibt eine Beule“, sagte Stefan und strich ihr sanft über die Stirn. Zum ersten Mal seit heute Morgen sah sie ihn lächeln.

„Danke“, hauchte sie.

„Gerne.“

Stefan bückte sich, hob ihr Handy auf und gab es ihr. Ein dicker Riss zog sich über den Bildschirm, das Display war tot. „Ich hoffe, es war nichts Wichtiges?“

„Nein“, antwortete Laura und biss die Zähne zusammen. Sie hatte den Eindruck, als rieche sie Rauch aufsteigen.

Zusammen liefen sie durch den Duty-Free-Bereich und gelangten endlich zum Sicherheitsschalter. Lauras Handy weigerte sich anzuspringen, deshalb nutzte sie Stefans Beschützerinstinkt und bat ihn um seines. Ihr Freund gab es ihr ohne zu murren, was sie wunderte. Während sie in der Schlange warteten, tippte sie die Nachricht zum dritten Mal. Sie sparte sich die komplizierten Floskeln, um Klara zu becircen. Stattdessen schrieb sie einfach „Dringend! Hab den Herd vergessen! Bitte checken!“ und drückte auf Senden.

Die Nachricht flutschte ohne Probleme durch den Äther. Es war geschafft.

Laura fühlte, wie eine Last von ihren Schultern wich. Sie entspannte sich und plötzlich sah alles ganz anders aus. Die Farben der Flughafenreklame wirkten mit einem Mal bunter und sie empfand sogar Freude auf den Urlaub.

Wenn er wollte, konnte Stefan der liebste Mann auf Erden sein. Blieb die Stimmung, wie sie jetzt war, konnte es ein richtig schöner Urlaub werden.

„Die Pässe, bitte.“ An der Sicherheitsschleuse wartete ein Mann in Uniform und kontrollierte die Papiere der Passagiere, während hinter ihm die Gepäckstücke durch den Scanner fuhren. Laura suchte nach den Pässen, als sie ein Brummen in der Hosentasche spürte. Sie hatte Stefans Handy vergessen auf das Band zu legen – ein Umstand, auf den sie der Security-Mann sofort hinwies.

„Ihre Pässe und die Boardkarte bitte.“

Laura gab ihm die Dokumente und sah auf Stefans Handy. Endlich! Nachricht von Klara!

Der Security-Mann prüfte ihre Boarding Pässe. Stefan wippte wieder mit den Füßen. Laura öffnete die Nachricht und las den Text. Klara hatte ihr geschrieben. Aber nicht, was sie gehofft hatte.

‚Sorry, keine Zeit. Hab ein Date. Viel Spaß im Urlaub!‘

Verdammt! Das war überhaupt nicht Klaras Art. Verstand ihre Freundin nicht, wie dringend es war?

Oder aber …

„Und jetzt die Pässe bitte.“

Laura schaute auf. „Da sind sie doch.“

Der Mann von der Security schaute auf die Dokumente, die sie ihm gegeben hatte und schüttelte den Kopf. „Das sind nur die Boarding-Pässe. Ich brauche ihre Reisepässe.“

„Aber die hab ich do-“

„Laura“, sagte Stefan. „Wo hast du die Pässe?“

„Vorhin am Schalter hatte ich sie noch.“

„Oh Gott, Laura.“

„Ich brauche ihre Pässe bitte, jetzt“, sagte der Security-Mann. „Die Schlange wartet.“

„Ich hab sie dir gegeben, Stefan. Du musst sie noch haben!“

Stefan atmete tief ein. „Das ist nicht dein Ernst, oder? Ich hab dich extra gefragt, ob du die Pässe wieder eingesteckt hast. Hast du sie jetzt oder nicht?“

„Doch, klar“, sagte Laura und tastete ihre Taschen ab. „Klar hab ich sie ...“

Laura konnte die Pässe nicht finden.

Das war der Moment, in dem das Fiepen begann. Laura sah, wie Stefan auf sie einredete, aber sie konnte ihn nicht hören. Sein Mund bewegte sich und wütende Speichelfäden zogen sich zwischen seinen Lippen auf, doch das hochfrequente Fiepen in Ohren ertränkte seine Worte. Neben ihm stand der Mann von der Security, seine Arme verschränkt. In Zeitlupe rollte er mit den Augen und Laura spürte, wie ihr die Luft abgeschnürt wurde. Der ganze Flughafen beobachtete sie. Ihr wurde schwindelig.

Ich habe eine Panikattacke.

„Laura, wo hast du die Pässe?“

Oh Gott, die Pässe. Wieso nur hatte sie die nicht eingesteckt?

Die Kraft verließ ihre Arme. Sie wollte sich setzen, am besten in den Flieger und das ganze Debakel hinter sich lassen. Sie freute sich auf den Urlaub, sie brauchte ihn jetzt dringender als je zuvor. Stefan würde sie verlassen, wenn sie den Flug verpassten, das konnte sie spüren. Er würde ihr ihre Beziehung wie ein Haufen Scherben vor die Füße werfen und sich eine neue Freundin suchen, eine funktionierende, ohne Zwangsstörung.

Aber der Herd! Was war mit dem Herd? Sie musste sich darum kümmern. Irgendwie musste sie sich ihn in den Griff kriegen, musste die Katastrophe verhindern, die sich bestimmt in dieser Sekunde in ihrer Wohnung abspielte. Sie musste jemanden warnen. Ihre Nachbarin, Frau Elstner und ihren kranken Mann. Sie musste etwas tun.

Wenn sie doch bloß Stefan davon erzählen könnte!

„Laura!“ Stefan hielt sie an den Armen fest. „Ist alles in Ordnung? Du siehst schlimm aus.“

„Mir … mir ist nicht gut“, stammelte Laura. „Ich glaube, mir ist schlecht.“

„Warte. Setz dich erst einmal hin.“ Stefan führte sie an den Rand des Security-Bereichs . Laura war dankbar für die Unterstützung. Sie hielt sich an ihrem Freund fest, spürte die Muskeln seiner Arme und suchte daran Halt. Stefans Augen glänzten. Er musterte sie mit einem Blick, als würde er einen Notarzt rufen wollen. Der Flug schien wie vergessen.

„Du bist ganz blass.“

„Mir ist irgendwie schwindelig.“

„Was kann ich tun? Brauchst du ein Glas Wasser?“

Das war es, das war ihre Chance! Stefan machte sich Sorgen um sie. Das konnte sie benutzen. Noch konnte sie die Sache hinbiegen, noch konnte sie den Urlaub retten. Sie musste ihn nur loswerden, damit sie die Angelegenheit mit dem Herd regeln konnte.

Das Fiepen wurde leiser. Ihr Puls beruhigte sich.

„Ich glaube, ...“ Laura schluckte und unterdrückte eine Träne. „ich glaube, ich kriege meine Tage.“

Stefans Augen verengten sich. Dann weiteten sie sich und wurden mild, wie die einer Kuh. Sie wusste, dass das eine billige Ausrede war. Etwas besseres fiel ihr auf die Schnelle nicht ein. Die Hauptsache war, dass es wirkte.

„Oh“, sagte Stefan, sachte und behutsam. „Ok. Warte hier. Ich hole die Pässe.“

„Wirklich?“, schluchzte Laura. Die Tränen kamen jetzt über ihr Gesicht, quollen aus den Augen, weil sie es ließ.

„Du bist mir nicht böse?“

„Lass uns später darüber sprechen, ok?“ Dann fügte er hinzu: „Nein, das bin ich nicht.“

„Sicher?“

Eine kratzende Flughafendurchsage hallte durch die Sicherheitskontrolle. Ihre Namen wurden aufgerufen, verbunden mit der dringenden Bitte, sich am Gate zu melden. Stefan stöhnte. Er ballte eine Faust, aber so, dass Laura es nicht sehen sollte. Sie sah es trotzdem. Daran, dass er sie dennoch anlächelte, merkte sie, dass ihr Plan funktionierte.

„Wir kriegen den Flieger noch“, sagte er. „Versprochen!“

„Ich liebe dich, Stefan.“

„Ich dich auch.“

Und damit eilte Stefan davon, zurück zum Check-In, um die Pässe zu holen.

Laura atmete erleichtert auf. Dann schoss das Adrenalin in ihren Kopf. Ihr blieb nicht viel Zeit, Stefan würde nicht lange brauchen. Sie musste ein Telefon finden. Suchend sah sie sich in der Halle um.

Da! Am anderen Ende der Halle stand ein Münztelefon. Das würde ihre Rettung sein. Sie rannte hinüber und klemmte sich den Hörer zwischen Kopf und Schulter. Wie war Frau Elstners Nummer

gewesen? Laura wählte. Dann fiel ihr ein, dass sie Münzen brauchte. Sie suchte ihr Portemonnaie, doch dann erinnerte sie sich, dass sie es in ihren Rucksack gesteckt hatte. Der lag noch bei den Securitys.

„Entschuldigung, haben Sie einen Euro für mich?“

Die Familie, die Laura ansprach, stand mit gepackten Taschen am Ende der Schlange vor dem Sicherheitsterminal. Der Vater drehte sich um, klopfte seine Taschen ab und schüttelte entschuldigend den Kopf. Die Mutter beachtete sie nicht. Irgendwie schien sie sich vor Laura zu fürchten.

„Fuck!“ Laura haute den Hörer auf die Gabel. Gab es den nirgendwo ein Telefon, dass sie benutzen konnte?

„Kann ich Ihnen helfen?“

Eine ernste Frau in Flughafenuniform kam auf Laura zu und verschränkte die Arme vor der Brust. Laura lächelte sie an, doch die Frau verzog keine Miene. Sie musterte Laura und kratzte sich an der Nase, als warte sie auf eine Antwort.

„Alles in Ordnung bei Ihnen?“

Nichts ist in Ordnung!, schrie Laura in Gedanken. Meine Wohnung brennt ab und mein Freund will mich verlassen.

„Ja, alles prima.“

„Das Telefon ist Eigentum des Flughafens, Sie müssen sorgsam damit umgehen.“

„Ich weiß, entschuldigen Sie bitte...“

„Sie sehen blass aus.“

„Mir geht es nicht so gut.“

„Vielleicht bringen wir Sie besser auf die Krankenstation.“

„Nein, es geht schon … danke … sagen Sie...“

„Ja?“

Laura kratzte ihren letzten Rest Mut zusammen. Ihr ganzer Körper zitterte, kalter Schweiß lief ihr aus den Achseln. Wie die Frau sie ansah, wie sie sie begutachtete, als wäre sie ein Zwischenfallbericht, der sich gerade in der Entstehung befand. Laura musste sich zusammenreißen, einen kühlen Kopf bewahren, nicht an den Herd denken, an Stefan, das Chaos, die Zerstörung, die sie verursacht hatte …

… und dann dachte sie genau an all das und gab den Startschuss für die Tränen.

„Kann ich bitte kurz telefonieren?“, schluchzte sie und verstand selbst ihre Stimme nicht mehr. „Es dauert auch nicht lange, versprochen.“

„Haben Sie denn kein Handy?“

„Mein Freund hat mein Handy und ich muss dringend telefonieren.“

„Ich kann Sie nicht einfach ...“

„Es ist ein Notfall, wirklich!“

Die Frau seufzte. Sie nahm das Funkgerät von ihrem Gürtel und setzte an, dann hielt sie inne und musterte Laura wieder.

„Schlägt Ihr Freund Sie?“

„Was?“

„Ist er gewalttätig?“

„Nein, ich ...“ Laura überlegte. „Bitte, ich muss nur kurz telefonieren. Dann ist alles wieder in Ordnung.“

„Na gut“, sagte die ernste Frau von der Security. „Aber machen Sie schnell. Hier entlang.“

Laura folgte ihr in ein Büro, dass seitlich versteckt hinter einem abgesperrten Bereich lag. Sie trat in den kleinen Raum, wo ein weiterer Sicherheitsbeamter hinter einem Schreibtisch saß. Die ernste Frau erklärte ihrem Kollegen, dass Laura einen Anruf tätigen musste und verabschiedete sich dann wieder auf ihren Posten. Der Kollege nahm den Hörer und fragte, welche Nummer er wählen sollte.

Laura sagte ihm die Nummer. Sie betete, dass sie sich richtig erinnerte. Als es klingelte, hielt sie den Atem an.

„Hallo?“

„Frau Elstner!“ Laura schossen die Worte erleichtert aus der Lunge. „Geht es Ihnen gut?“

„Es geht so“, antwortete Frau Elstner. Sie klang verwirrt, doch das konnte auch da Alter sein. Laura und Frau Elstner kannten sich kaum, sie mochten sich auch nicht besonders. Die alte Dame beschäftigte sich den ganzen Tag über nur mit ihrem Mann und mochte es nicht, dass ihre Nachbarin abends so laut Musik hörte. Die Nummern hatten sie nur für Notfälle ausgetauscht und es war das erste Mal, das Laura tatsächlich davon Gebrauch machte. Was sie wohl zu dem sagen würde, um was Laura sie gleich bat?

„Frau Elstner“, fing Laura an. „Ich weiß, das klingt jetzt komisch, aber sie müssen mir einen dringenden Gefallen tun.“

„Was denn?“, sagte Frau Elstner. „Ich bin in Eile.“

Laura holte tief Luft. „Es dauert nicht lange. Haben Sie noch den Schlüssel zu unserer Wohnung?“

„Irgendwo bestimmt.“

„Können Sie ein Engel sein und einmal bei uns rein schauen? Ich habe etwas vergessen.“

Am anderen Ende der Leitung hörte Laura ihre Nachbarin seufzen. Diese jungen Leute, dachte sie wahrscheinlich, was für Vorstellungen haben die? Einen Augenblick lang herrschte Stille, nur das Rauschen der Telefonleitung war zu hören. Dann: „Ich hab ihn. Sekunde, ich gehe rüber.“ Das Klimpern von Frau Elstners Schlüsselbund war zu hören. „So, da bin ich. Wonach suchen wir?“

Laura spürte, wie die Anspannung sich verflüchtigte. Wenn die Wohnung brennt, würde sie nicht so reagieren, dachte sie. Aber sie musste sicher gehen.

„Ähm ...“, machte Laura. „Das ist mir jetzt ein wenig peinlich, aber … “

„Spucken Sie‘s aus“, knurrte die alte Frau. „Mein Mann wartet.“

„Ich glaube, ich habe den Herd angelassen. Können Sie einmal nachsehen?“

Wieder Stille. Laura wappnete sich für das, was gleich kommen würde. Wie konnte sie nur so dreist sein und eine alte Frau für solch eine Lappalie von ihrem kranken Mann wegholen? Hätte sie das nicht selbst kontrollieren können? Oder eine Freundin schicken?

Laura hielt den Atem an, doch dann hörte sie ein Knacken in der Leitung und das Gespräch war weg.

„Hallo?“, sagte Laura, „Frau Elstner?“, doch keine Antwort. Die Leitung schwieg.

„Laura? Was machst du hier?“

Laura drehte sich um, den Telefonhörer noch in der Hand. Stefan stand in der Tür. Schweiß tropfte ihm von der Stirn, in der Hand hielt er ihre Pässe.

„Ich ...“

„Komm jetzt, wir haben keine Zeit. Ich hab beim Gate anrufen lassen, sie warten auf uns. Was machst du da?“

Laura sah von Stefan zu dem Sicherheitsmitarbeiter, dann wieder zu Stefan. Warum hatte das Gespräch plötzlich abgebrochen?

War der Herd explodiert?

„Mach jetzt“, sagte Stefan und packte sie am Arm. Er zog sie aus der Tür und hinter sich her. Laura wehrte sich nicht. Die ernste Frau von der Security lotste sie durch den Körperscanner und tastete sie ab. Sie sagte kein Wort. Als sie fertig war, gab sie Laura ihren Rucksack und schob sie sanft weiter. Stefan verschwendete keine Sekunde. Kaum, dass sie durch waren, nahm er wieder ihren Arm und zog sie hinter sich her. Er rannte zum Gate, Laura stolperte mit ihm mit. Die Flughaftenarcaden um sie herum verschwammen zu einem Gemisch aus Lichtern und Farben. Sie nahm den schweren Geruch von Parfüm war, eine Wolke davon grub sich in ihre Nebenhöhlen und raubte ihr die Luft. Sie eilten eine Treppe hinauf, dann einen Gang entlang und wieder eine Treppe hinauf. Irgendwann machte Stefan Halt, holte Luft und zeigte vorwärts.

„Wir haben‘s geschafft!“

Eine lächelnde Frau in enger Uniform erwartete sie am Schalter. Stefan reichte ihr ihre Boardkarten und Pässe, dann wurden sie eilig weiter gelotst, in die ziehharmonikaartig Schleuse, die an den Flieger dockte.

„Eine kleine Erfrischung gefällig?“ Eine Stewardess mit Zahnarztlächlen gab Laura ein Bonbon, dass sie geistesabwesend entgegennahm. Stefan führte sie die Sitzreihen entlang. Männer in

Anzügen schauten von ihren Boardmagazinen auf und musterten sie kritisch. Eine Frau mit Kind warf Laura einen scharfen Blick zu, denn wegen ihnen hatte sich der Abflug verzögert und nun räkelte sich das Baby in ihrem Arm, statt stumm den Start zu verschlafen. Endlich fand Stefan ihre Sitze und verstaute seine Tasche oben im Gepäckfach. Laura setzte sich schweigend auf den ihr zugewiesenen Platz. Mechanisch legte sie den Sicherheitsgurt an und starrte auf den Klapptisch vor sich.

„Mit wem hast du telefoniert?“

Die Stewardessen begannen mit ihrer Vorführung der Sicherheitsvorkehrungen.

„Frau Elstner“, sagte Laura.

„War es was wichtiges?“

„Nein.“

Laura lehnte sich zurück. Als die Stewardessen ihre Demonstration beendeten, machte der Kapitän eine Durchsage. Laura hörte nicht zu. Sie dachte an Frau Elstner. Sie dachte an den Herd.

Wahrscheinlich war die Leitung einfach unterbrochen worden. Oder der Akku vom Telefon ihrer Nachbarin hatte den Geist aufgegeben. Es gab Tausend Möglichkeiten. Keine davon stellte sie ruhig. Erst als das Flugzeug zu rollen anfing, wurden ihre Augenlider schwer. Die Flugzeugturbinen dröhnten, irgendwo schrie ein Baby und als die Maschine startete, schlief Laura ein.

Als Laura aufwachte, schaute sie aus dem Fenster und sah Wolken.

„Du hast geschnarcht.“

Neben ihr saß Stefan und lächelte sie an. Auf dem Klapptisch vor ihm stand eine leere Plastikschale, dazu ein Glas Tomatensaft. Laura hatte das Essen verschlafen, jetzt spürte sie das Loch in ihrem Bauch.

„Tut mir leid“, sagte sie, doch meinte es nicht wirklich so. Der Herd fiel ihr wieder ein.

„Macht nichts“, sagte Stefan und putzte sich den Mund ab. Die Stewardessen schoben einen Wagen durch die Gänge und als sie an ihrer Reihe vorbei kamen, gab Stefan ihnen seinen Müll und drehte sich zu seiner Freundin herum.

„Ich weiß, dass ich manchmal ganz schön unausstehlich sein kann“, sagte er. „Das tut mir leid.“

„Ich verzeihe dir“, sagte Laura, leicht benommen vom Schlaf. Wo waren sie? Wie lange waren sie schon geflogen?

Hatten sie noch ein Zuhause?

„Ich wollte dich nicht so unter Druck setzen, das war nicht fair von mir. Ich wollte nur, dass wir einen ganz besonderen Urlaub miteinander verbringen. Es hat ja noch alles geklappt.“

Laura sah ihn an. Etwas an seiner Stimme kam ihr merkwürdig vor. Sonst säuselte er nicht so verliebt.

„Das werden wir“, sagte sie. Für einen Moment glaubte sie es sogar.

„Ich habe eine Überraschung für dich“, sagte Stefan schließlich und zwängte seine Hand in seine Tasche. „Eigentlich wollte ich damit warten, bis wir am Strand liegen. Aber über den Wolken finde ich, passt es auch. Warte.“

Er holte etwas aus seiner Tasche hervor, eine kleine Schatulle. Dann sah Laura mit an, wie ihr Freund vom Sitz glitt und auf ein Knie ging. Was ging hier vor sich?

„Laura“, sagte Stefan und öffnete die Schatulle. „Nach allem, was wir durchgemacht haben – willst du meine Frau werden?“

In der Schatulle befand sich ein Ring. Ein dünner, kleiner Ring, gerade groß genug für ihren Finger, dafür glänzend und brillant. Er funkelte. Laura blieb die Luft weg.

„Oh meine Güte“, hauchte eine Passagierin im Nebensitz. „Wie romantisch!“

„Na, das ist ja ein Ding!“, sagte jemand.

Stefan schaute sie mit großen Hundeaugen an. Waren das Tränen, die ihm da über die Wange liefen?

Waren das Tränen, die über ihre Wange liefen?

Die gesamte Kabine, einschließlich der Stewardessen, applaudierte, als Laura „Ja“ sagte. Über Funk gratulierte der Pilot dem glücklichen Paar und spendierte jedem ein Glas Sekt. Stefan küsste ihr Gesicht, schloss sie in die Arme und drückte sie. Das wäre all den Stress wert gewesen, sagte er. Alles werde gut.

Laura besah sich ihren Ring. Sie weinte vor Glück. Dann heulte sie und schluchzte.

Sie wollte sich ja freuen. Doch es gab da diese eine Frage, die ihr nicht mehr aus dem Kopf ging.

Zurück
Zurück

Alte Löwen gehen sterben

Weiter
Weiter

Die Verschwörung der bunten Socken