Alte Löwen gehen sterben

Die alten Löwen saßen versammelt am Wasserloch und tranken Bier. Ihre faltigen Gesichter hingen auf Halbmast. Das Gespräch mit dem Vormann war wie vermutet verlaufen - nicht gut. Am Montag konnten sich die alten Semester der Fabrik ihren letzten Lohnbrief abholen. Danach war die neue Generation am Zug. 

   Ich wusste, dass es eine Prügelei geben würde. 

   Ich bestellte mir einen Schnaps. Nur zur Abwechslung und um das Brennen in der Brust zu löschen. Fellon, unser schwerhöriger Barkeeper, nahm einen ganzen Schwung Gläser zur Hand. Er stellte sie in einer Reihe vor uns auf die Theke und füllte sie mit Klarem. “Auf’s Haus!” rief er lautgenug, dass sich die Köpfe zu uns umdrehten. Er meinte, wir könnten es gebrauchen. 

   Eddie meinte dagegen, man könnte sich gleich erschießen. 

“...und den Vormann gleich mit. Verfluchtes Kollegenschwein! Der ist doch selber Mitte fünfzig. Im Management kann man bis zum Tod malochen. Für Anzugträger gilt keine Altersbegrenzung, wie? Verfluchte Scheiße. Solande ich noch Hände habe, kann ich noch arbeiten!”

   Wütend kippte Eddie seinen Schnaps. Er schlug das Glas wie zur Bestätigung auf den Tisch, doch Melbourne war anderer Meinung. Seine Frau besaß einen Kiosk, wo sie Rubbellose erkaufte. Es schien sich zu lohnen. 

   “Das ist der Kreislauf der Natur, Eddie. Du siehst das ganz falsch. Die Jungen beerben die Alten - so ist das schon immer gewesen. Stemm dich dagegen, soviel du willst. Doch am Ende wirst du damit nicht glücklich.”

   “Sollen wir uns denn einfach in die Höhle verkriechen und darauf warten, zu sterben?” Eddie verzog das Gesicht, ein Rotzfaden tropfte von seiner roten Knollnase. “Du hast halt gut reden, Melbourne. Du kannst wenigstens die Lose rubbeln, wenn’s deine Frau schon nicht mehr mit deinem Schwanz macht.”

   “Alles eine Frage der Perspektive”, erwiderte Melbourne und hob grinsend sein Bierglas. “So eine Höhle kann verdammt kuschelig sein, wenn man weiß, wie man’s sich nett macht.”   “Fick dich, alter Mann. Hey, Karl - was meinst du denn dazu?”

   Vom Bier schwammig gewordene Köpfe drehten sich zu mir um, wie junge Kälber, die nach der Mutterkuh schauen. 

   Eddie nahm mein Schulterzucken grunzend hin. Ich wusste nicht, was ich dazu meinen sollte. Mein Hirn gor in einer Lake aus pisswarmen Bier vor sich hin, bereit, das Licht auszumachen, wenn ich das Zeichen gab. Alles, was ich wusste, war, dass morgen mein letzter Arbeitstag vor der Pension sein würde. Ich hatte noch einen Zwanziger in der Tasche, einen Präser im Portemonnaie und den Haustürschlüssel am Gürtel - den Schlüssel zu meiner Höhle, wo Moira und die Kinder warteten. 

   Ich wurde das Gefühl nicht los, dass irgendwo jemand die Rolle mit dem Abspann meines Lebens in den Projektor legte. 

   “Wenn du weiter so starrst, fallen dir noch die Augen aus dem Schädel, Karl. Oder heilt der Hintern deinen grünen Star?”

   Pete war einen Hocker zu mir aufgerückt. Sein dürrer Leib war wie für eine Kneipentheke geformt, schlacksig und schmal, sodass er auch im dichtesten Gedränge Platz fand. Jetzt, wo er den Raum hatte, machte er sich breit, legte sich halb auf die Theke und schob sein Glas zwischen den Händen herum. Vor dem vierten Bier hörte man nicht viel von dem alten Kerl. Eben hatte Fellon die Happy Hour ausgerufen - wieder zu laut, er sollte mit dem Ohr dringend zum Arzt - und nun kam Bewegung in die Kneipe. Die Gespräche wurden lauter, an der Theke bildete sich plötzlich eine durstige Schlange. An der Jukebox stritten zwei Kumpels von der Tagschicht über das nächste Lied. Während sie die Fäuste ballten, nahm ihnen ein Dritter die Entscheidung ab und legte “Paint it black” von den Stones auf. Ich erinnerte mich noch, als der Song rauskam. 

   Ich schielte wieder zum Ende der Theke. Ganz am Ende hatte ein junges Mädchen Platz genommen. Sie saß halb im Schatten, nah bei den Toiletten, als versteckte sie sich. Man sah ihr an, dass sie nicht hierher gehörte: Sie hatte einen knackigen, durchtrainierten Körper - wie eine Gazelle. Ihr braunes Haar trug sie kurz geschnitten, fast wie ein Junge. Mit kalten Augen maß sie die Bar ab, ließ ihren desinteressierten Blick wandern, ohne an einer bestimmten Stelle innezuhalten. Ihre Bluejeans hatte Risse an den Pobacken. Ein Flecken weißer Haut war darunter zu erkennen. 

   Es dauerte nicht lange, bis jemand versuchte, ihr einen Drink auszugeben. 

   “Da kommt man ganz schön auf Ideen, was?” Pete grinste mich an. Zigarettenqualm wehte mir entgegen. “Du machst auch schon ganz schöne Stielaugen, Junge.”

   “Vielleicht bin ich geil, Pete”, antwortete ich langsam. “Aber ich bin auch Realist. Versuch du es doch, wenn du willst.”   “Hängt wohl schon alles bei dir? Poliert Moira dir nicht mehr regelmäßig die Lanze?”   “Mir geht es bestens, danke der Nachfrage. Was ist jetzt?” Ich neigte den Kopf zur Seite und sah Pete an. 

   Der biss sich auf die trocknen Lippen.

   “Was mach Elaine eigentlich heute Abend?” fragte ich. 

   “Tu nicht so scheinheilig”, raunte Pete mir entgegen. “Als würde es dir nicht in der Hose kitzeln. Wir sind vielleicht alt - aber noch lange nicht tot. Oder?”   Ich zuckte wieder mit den Schultern. “Wie gesagt: Ich bin Realist.”

   Pete grunzte. Er war offenbar keiner. Jedenfalls bestellte er sich bei Fellon noch zwei Kurze, trank sie hintereinander weg und zog dann den Bauch ein. Er stand auf und ich ahnte Böses. 

   Pete näherte sich dem jungen Mädchen wie ein stolpernder Tiger auf der Pirsch. 

   Moira hatte die Kinder bestimmt schon ins Bett gebracht. Der kleine Tommy war heute vom Schulausflug heimgekommen - nach allen Regeln der Biologie sollte er todmüde sein, doch wahrscheinlich würde er auf Biegen und Brechen darauf bestehen, vor dem Schlafen noch seine Sendung zu gucken. Ella erwies sich da als pflegeleichter; es reichte aus, sie mit ihrem Buch im Bett zu parken und irgendwann das Licht auszuschalten, wenn sie eingeschlafen war. Moira selbst lag bereits auf dem Sofa unter der Decke. Zu dieser Zeit, wenn ich von der Spätschicht nach hause kam, fand ich sie für gewöhnlich schnarchend vor dem Fernseher wieder. Wenn sie einschlief, hing ihr immer ein dicker Speichelfaden vom Kinn; sowas kann man ja nicht ahnen, in seiner Hochzeitsnacht. 

   “Pass mal lieber auf deine Schäfchen auf”, flüsterte Fellon mir mit einem besorgten Ausdruck im Gesicht zu. Er deutete zum anderen Ende der Theke und ich stand sofort auf. 

   Pete machte sich bereits zum Affen. 

   “Schau, wer dort kommt, Lolita: Der faltige Löwe persönlich! Hast du unter dem Barhocker deine Eier wiedergefunden, Karl?”  

Es war kein aufmunternder Anblick, wie Pete mit halb hängenden Arbeiterhosen neben dem jungen Ding stand, das halb verschüttete Bier in der Rechten und in der Linken den dürren Arm des Mädchens. Er wankte im Stehen; die Kurzen hatten das Stammhirn erreicht und plattgemacht. Für die übrigen Gäste sah er aus, wie ein alter Idiot, der zu viel Schnaps erwischt hatte. Nur die Löwen wussten, wie gefährlich Pete werden konnte, wenn er getrunken hatte und nicht bekam, wonach ihm der Sinn stand. 

   “Willst du mir jetzt etwa die Tour vermasseln?” fragte er. An seiner Seite verschwand das Mädchen fast vollständig im Schatten. Sie rührte sich nicht und wartete ab, zumindest dachte ich das. Möglich war auch, dass sie selbst nichts mehr mitbekam. 

   “Fellon hat dir ein Taxi bestellt”, antwortete ich. “Elaine macht sich bestimmt schon Sorgen.”

   “Lass sie doch ersticken an ihren Sorgen!” Er machte eine wütende, ausladende Geste, wobei ihm das Glas aus der Hand rutschte und auf dem Boden zerbrach. “Ich kann es nicht mehr hören! Dauernd dieses Genörgel. Weißt du, was sie mir neulich geschenkt hat, Karl? Weißt du, was sie mir in die Hand gedrückt hat?”  

“Es wird langsam unangenehm, Pete…”  

“Das hier!”, rief er und warf in meine Richtung. 

   Ich fing das Plastikdöschen noch in der Luft ab. Es war Viagra. Eine ganze Flasche, voll bis zum Rand. Nur der Sicherheitsverschluss war aufgebrochen. 

   “Das muss dir wirklich nicht peinlich sein, Pete”, fing ich an. “Männer in unserem Alter, ich meine…”

   “Ich bin noch nicht *tot*!”

    “Ich weiß…” 

   “Aber ich bin noch nicht tot!”

  

Unser Taxi hielt in einer Straße, die ich nicht kannte. Dabei kannte ich mich ganz gut in der Stadt aus. Hier sahen die Häuser aus wie Bungalows aus Ziegelsteinen - nicht gebaut, sondern in letzter Minute zusammengesetzt, vier Wände und Dach. Dicke Gitterstäbe versperrten die Sicht aus den Fenstern. Ob zum Schutz der Bewohner vor der Außenwelt oder anders herum, war nicht ersichtlich - beides schien mir möglich, während ich die Gestalten beobachtete, die sich unauffällig unter den Straßenlaternen herum drückten. 

   Kalte Nachtluft wehte durch das Taxifenster hinein. In der Ferne hörte man Bässe wummern, offenbar feierte am anderen Ende der Straße jemand eine Party und die ganze Nachbarschaft war eingeladen. Ständig sah man jemanden kommen, oder in der Dunkelheit verschwinden und obwohl mir hier mulmig zumute wurde, fühlte ich unter dem Asphalt einen Pulsschlag. 

   Es fühlte sich hier lebendig an. 

   “Kommst du?” 

   Lolita war aus dem Taxi ausgestiegen, sie stand nun auf der Straße, mit ihren viel zu kurzen Shorts und wartete auf mich. Ich hatte nicht den blassesten Schimmer, was ich hier tat; ein Zwanziger hätte gereicht, sie in einen Wagen zu setzen und heile nach hause zu bugsieren. Niemand hatte mich gezwungen, mit einzusteigen. Und nun war ich hier. 

   Was Moira wohl dazu sagen würde?

   “Es ist schon spät”, hörte ich mich sagen. “Vielleicht sollte ich nach hause fahren.”   “Wie du meinst.” Lolita zuckte mit den Schultern; dann drehte sie sich um und ging über die Straße, auf eines der Häuser zu. Der Taxifahrer sah mich an; ihm schien es in der Gegend nicht geheuer. 

   “Warte!”

   Lolita blieb stehen, sah mich an. Im Dunkeln funkelten mich ihre Augen müde an. 

   “Alles ok bei dir?” wollte ich wissen. “Kommst du zurecht, oder…?”   “Es ist kalt. Die Heizung funktioniert nicht richtig.”   “Hast du Decken?”

    Sie schüttelte den Kopf. Ich wechselte einen Blick mit dem Taxifahrer; er nickte zum Taxameter, um mich zu erinnern, dass jede Sekunde meines Theaters direkt aus meiner Brieftasche ging. 

   “Ok”, sagte ich und drückte ihm den Zwanziger in die Hand. “Ich bringe dich noch rein.”   Dann stieg ich aus. In dem Moment schien es eine gute Idee zu sein. 

Mir blieb kaum Zeit, die Wohnung zu betrachten - das wellige Laminat in der Küche, der Plastiktisch, auf dem noch die Frühstücksreste standen, die Fruchtfliegen, die sich über dem Spülbecken tummelten - denn kaum fiel die Tür hinter mir ins Schloss, griff Lolita mir an die Jeans. 

   “Komm, ich zeig dir wo die Heizung ist”, flüsterte sie mir ins Ohr. 

   Sie trug roten Nagellack. Ihre Finger tanzten über meinen Reisverschluss, suchten nach der Öffnung und zogen ihn mechanisch auf. Ihre Hand verschwand in meiner Hose. Ich spürte ihre kalten Fingerspitzen meinen Schwanz kitzeln. 

   Hatte Moira so etwas jemals gemacht?

   “Du hast es ganz schön eilig.”

   “Willst du vorher einen Kaffee trinken?” fragte sie. 

   “Nein, geht schon.”

   Wie an einer Angelschnur zog sie mich ins Schlafzimmer. Ich musste den Kopf einziehen, um ihn mir nicht am Türrahmen zu stoßen. Die brachte mich in einen kleinen Raum, dessen Fenster mit schwarzen Tüchern verhangen war. Es gab keine Vorhänge. An der Lampe auf dem Nachttisch fehlte der Schirm; eine nackte Glühbirne ging an, als Lolita über das Bett kletterte, auf den Schalter drückte und mir dabei ihren Hintern entgegenstreckte. Sie fragte, ob mich das Licht störte. 

   “Wie du möchtest”, antwortete ich. 

   “Ich will deine Falten sehen, wenn wir es tun.”

   “...ok.”

   Mit dem Licht bemerkte ich nun auch das Schlafzimmer um mich herum. Ich fragte mich, wie ein normaler Mensch so hausen konnte: Das Bett bestand aus einer Matratze, die von einem schiefen Holzrahmen hochgehalten wurde. Bei jeder abrupten Bewegung quietschte und wackelte es. Auf dem Boden verstreut lagen Dutzende von Decken - sie hatten allesamt keinen Bezug, dafür Brandlöcher in verschiedenen Größen. Ich bemerkte, dass ich mit dem Schuh direkt in seinem nassen Fleck auf dem Teppich stand. Es hätte Kaffee, Blut oder sonst etwas sein können. 

   Mir war das egal; ich hatte schon in schlimmeren Bruchbuden gelebt. Doch plötzlich wirkte auch Lolita anders auf mich. 

   “Du machst mich unglaublich scharf, weißt du das?” Wie ein verspielte Kätzchen kam sie über das Bett auf mich zu. Ihr Körper war schlank und straff - und mit blauen Flecken übersät. In der Bar war es mir nicht aufgefallen, doch über ihren Oberschenkel zog sich eine Spur wie von Granateneinschlägen in einem Kriegsgebiet. Ihr rotes Top reichte nur knapp unter die Brust; darunter sah ich nun ihre Rippen durch die dünne Haut stechen und fragte mich, wann sie das letzte Mal etwas gegessen hatte. 

   “Manchmal, wenn es mich juckt”, erklärte sie mir mit einem verführerischen Lächeln, “lege ich mich in den Bars auf die Lauer und warte auf den Richtigen. Mein Kopf wird dann ganz schwindelig, wenn mein Löwe nicht kommt. Aber heute Abend muss ich wohl Glück gehabt haben.”   “Du scheinst einen Faible für ältere Semester zu haben.”   “Warum auch nicht?” antwortete sie, als wäre es ganz offensichtlich, warum sie mich ausgewählt hatte. “Bei dir muss ich mir keine Sorgen machen, dass du mit scharfer Munition schießt, Cowboy.”

   Dann stand sie auf und sprang mir vom Bett aus in die Arme. 

Ich stolperte. Der Türrahmen fing mich auf und schlug mir in den Rücken, doch Loliats Lippen saugten mir den Schmerz aus dem Leib. Sie klebte an mir wie ein Putzerfisch. Jeder Millimeter meines Mundes wurde von ihr begraben; ihre Zunge wand sich in meinem Hals, glitt über meine Zähne und kitzelte mich. Ich hatte keine Zeit zu reagieren. Mit beiden Händen packte ich ihren Hintern, zog sie an mich und stieß mich weg von der Tür zum Bett. Wir taumelten und fielen. Lolita jauchzte in meinen Armen; ihre Beine umschlungen meine Hüfte, dass es schmerzte. Ich wusste nicht mehr, wie sie mir die Hose auszog. Auf einmal lag ich einfach nackt auf ihr und mein alter Schwanz salutierte voller Stolz. 

   “Los, zeig mir, was du kannst!”

   Ihre Kommandos peitschten mich an. Jede Sekunde verging wie im Rausch, während das Adrenalin in meinen Schläfen pumpte. Frauen sind biologisch nicht fähig, dieses Gefühl zu verstehen: Keine sechs Stunden, nachdem sie uns ins ewige Eis des Ruhestands geschickt hatten, lag ich nackt auf einem Teenager, einer Fremden, die mir das Blei aus dem Rohr saugen wollte und gleichzeitig Leben in die Venen pumpte. Ein Mann ist nur so viel Wert, wie die Beute, die er erlegt und ich stand kurz davor allen - Moira, den Löwen, Fellon, Pete und mir selbst - zu beweisen, dass man noch immer mit mir rechnen musste. Selbst, wenn sie es nie erfahren würden. Das Feuer brannte noch.

   Bis es plötzlich erlosch. 

   “Was ist los?”

   “Nichts. Können wir die Heizung anmachen?”   Unter mir richtete Lolita sich auf und schaute an mir herab. Ich hörte sie leise seufzen. “Wenn du was brauchst”, sagte sie, “im Bad sind noch Pillen.”   “Es geht schon. Ich friere nur ein wenig.”

   “Geh einfach ins Bad. Wir haben nicht ewig Zeit, ok?”

    Nackt wie ich war, mit schlackerndem Schwanz, rollte ich von ihr herunter und ging ins Bad. Die Tür stand einen Spalt weit auf; dahinter lag Finsternis. Sowas war mir noch nie passiert - mit Moira hatte mein Werkzeug immer einwandfrei funktioniert. Manchmal taten wir es noch, wenn wir uns die grauen Fotos von den Flitterwochen anschauten. Es hatte nie Grund zur Beanstandung gegeben. Doch mit einem Schlag fühlte ich mich Tausend Jahre alt. 

      Der Lichtschalter machte ‘klick’, über dem Badezimmerspiegel flackerte eine Röhre auf. Es war kalt zwischen den Fliesen; das Bad war winzig - zur Dusche war es nur ein halber Schritt. Der Duschvorhang hing zugezogen davor. 

   Ich hatte das Gefühl, beobachtet zu werden. 

   Hinter dem Spiegel versteckte sich ein Schrank. Darin fanden sie allerlei angebrochene Medikamente - hauptsächlich Vitaminpräparate, Kopfschmerztabletten in braunen Fläschen, ein bisschen Kinderhustensaft. Auf dem obersten Regalbrett fand ich eine kleine Pillendose, mit Muntermachern für Männer. Sie war halbleer; ich schluckte zwei und stellte sie zurück. 

   Ich fragte mich, wie viele alte Löwen vor mir schon ihren Weg in Lolitas Höhle gefunden hatten, da starrte mich ein alter Mann mit grauen Haaren und Falten an, als ich den Spiegelschrank schloss. 

   “Mensch, Karl - was machst du nur für Sachen?” seufzte ich mir aus dem Spiegel entgegen. “Weißt du, wie spät es ist?”

   Es brauchte einen Moment, bis ich verstand, was vor sich ging. Für uns mixte Fellon seine Drinks immer recht großzügig. Auch bei den Kurzen war er nicht geizig. Ich musste mehr erwischt haben, als gut für mich war und antwortete: “Halt den Mund. Ich kann tun und lassen, was ich will - ich bin mein eigener Herr!”   Der alte Mann im Spiegel schüttelte den Kopf. “Du verhältst dich wie ein Kind, weißt du das?”   “Ich bin erwachsen, aber lange noch nicht tot.”

   “Das hat Pete auch gesagt.”   “Er hat ja auch recht.”   “Alte Löwen haben in der Savanne nichts mehr verloren, Karl. Wo ist dein Problem?”

   “Was für ein Problem? Mir geht es blendend.”   “Hast du auch mal an Moira gedacht?”   “Die schläft längst”, erwiderte ich, langsam wütend werdend. “Die wird nie was mitkriegen. Und so, wie es gerade aussieht, werde ich mich morgen früh auch nicht mehr an viel erinnern können. Also gönn mir meinen Spaß und halt den Mund!”   Schweigen. Wie befohlen hielt der alte Knacker im Spiegel seinen Rand, starrte mir nur vorwurfsvoll in die Augen, was ich aber ertragen konnte. Dann sprach er plötzlich wieder und ich wusste nicht, was ich antworten sollte. 

   “Was ist mit dem Kind?” fragte er. 

    “Welches Kind?”    “Hast du es denn noch nicht bemerkt?”

    Ich folgte dem Blick meiner eigenen Reflektion im Badezimmerspiegel, wie ich mir über die Schulter schaute, zur Dusche. Ganz unten am Ende des Vorhangs, da wo der Schimmel anfing, sich in großen Flecken auszubreiten, wölbte sich der Stoff. Ein kleiner Handabdruck zeichnete sich ab. 

   Ich zog den Duschvorhang beiseite. Dann tat ich einen tiefen Atemzug und ging zurück ins Schlafzimmer. 

   “Da ist ein Baby in der Dusche”, sagte ich. 

   Lolita schaute mich an. Dann seufzte sie erleichtert. 

   “Ah, gut. Ich dachte, ich hätte es verlegt. Bist du einsatzbereit?”

   Mit einer fließenden Geste zog sie ihr Höschen über die Knie. Ihre Muschel kam zum Vorschein, zwinkerte mir zwischen ihren Beinen zu. Sie war frisch rasiert. 

   “Wo ist der Vater?”   “Keine Ahnung. Ist ne längere Liste mit Kandidaten. Kommst du?”   “Und wer achtet auf das Kind?” wollte ich wissen. Mein Herz flatterte in der Brust. Aus dem Badezimmer hörte ich das Baby brabbeln; als führte es Selbstgespräche. Oder unterhielt sich mit dem alten Mann im Spiegel. Es gelang mir nicht, es wieder auszublenden. 

   “Wird schon nix passieren. Sieh mal - scheint, als wäre dein Speer wieder einsatzbereit. Jetzt komm. Oder soll ich alleine anfangen?”   “Sorry, aber das geht so nicht”, sagte ich. Ich hob meine Unterhose vom fleckigen Teppich auf und zog sie wieder an.

   “Was hast du vor?” Lolita richtete sich auf. “Du brauchst keine Angst zu haben, du schiebst mir schon keinen neuen Braten in die Röhre!”

   “Darum geht es nicht.” Mir wurde plötzlich wieder bewusst, wie kalt es in der Wohnung war. Mein Atem gefror in der Luft; ich wärmte meine steifen Finger, bevor ich meinen Reisverschluss zuzog. 

   Yeah, Karl - was machst du bloß für Sachen?

   Lolita forderte mich auf, auf der Stelle zurück ins Bett zu kommen; sie schimpfte plötzlich und haute mit der Faust auf die Matratze. Sowas war ihr scheinbar noch nie passiert, dass einer ihrer alten Löwen sie einfach sitzen ließ. Ich ignorierte sie und suchte meine Socken zusammen. Ich musste so schnell wie möglich fort von hier; meinen letzten Zwanziger hatte ich abgegeben, doch notfalls würde ich nach hause laufen. Bloß weg von dem alten Mann im Spiegel. 

   Da brach jemand die Haustür auf. 

   “Laurie! Du verschissene Schlampe, wo steckst du?”   Mit einem Sprung katapultierte sich Lolita vom Bett. “Versteck dich!” zischte sie mir zu und drückte mich in Richtung des schiefen Kleiderschranks, der neben dem Bett stand Schrank. “Er darf dich nicht finden!” 

   Ich zog mich an, so schnell meine alten Muskeln es mir erlaubten. Meine Latte war steif - ich bekam den Reißverschluss nicht zu. 

   “Laurie, mach die Tür auf! Sonst huste und puste ich, bis sie einbricht!”

   Lolita war ins Bad gerannt, immer noch nackt. Jetzt kam sie wieder raus, mit dem Kind auf dem Arm. Ich stand auf einem Bein und zog mir die Socken an, da drückte sie mir das Bündel in die Arme. 

   “Es dauert nicht lange”, versprach sie mir. “Er muss sich nur wieder beruhigen. Gib bloß keinen Ton von dir, er darf Mikey nicht finden!” 

   “Wer zur Hölle ist das?”    “Einer von der Liste”, sagte sie. Dann warf sie sich einen löchrigen Bademantel um und zog den Vorhang zu, der das Schlafzimmer vom Rest der Wohnung trennte. 

   Der kleine Mikey schaute mich mit glitzernden Augen an. 

   “Wo ist er, Laurie? Gib ihn mir, oder ich zauber dir ein paar neue Feilchen!”

   “Ich hab dir Tausend Mal gesagt, dass er nicht von dir ist!” 

   “Gib ihn mir, oder ich..”

   Den Rest hörte ich nicht mehr. Das Fenster war nicht verschlossen gewesen. Während im Hausflur Laurie den vermeintlichen Vater ihres Kindes versuchte zu beruhigen, hatte ich Mikey auf der Fensterbank abgesetzt und war über den Sims auf die Straße geklettert. Mit dem Bündel auf dem Arm machte mich davon in die Nacht. 

Letzten Monat hatte Moira mir einen Termin beim Doktor gemacht. “Wegen deiner Pumpe”, hatte sie mir am Frühstückstisch erklärt. “Du bist jetzt in dem Alter…”

   Ich hatte davon nichts hören wollen. Den Zettel mit dem Termin hatte ich zwar eingesteckt, doch sobald ich auf der Arbeit angekommen war, hatte ich ihn in den Müll geworfen. 

   Er fiel mir jetzt wieder ein, als ich die Polizeisirenen hörte. 

“Setzen Sie das Kind auf den Boden und heben ihre Hände!” schrie mich der Polizist an. Es war mitten in der Nacht, blaues und rotes Licht flackerte über die Häuserwände. Meine Schuhe standen noch in Lauries Schlafzimmer. Vom Ende der Straße dröhnte Musik, die Party schien noch in vollem Gange zu sein, man hörte Rufe und Gegröhle. Viel zu laut für diese Uhrzeit. Jemand musste die Nase voll gehabt und die Polizei gerufen haben. 

   Und jetzt waren mir die Cops genau in diesem Moment über den Weg gefahren. Ich hielt ein Baby im Arm, das nicht meines war; mein steifer Schwanz ragte wie ein geladenes Gewehr aus meinem Hosenstall hervor. 

   “Ich kann das erklären, Officer”, flüsterte ich, doch ich konnte mich selbst kaum verstehen. In meinen Schläfen hämmerte mein Puls; mein linker Arm fühlte sich taub an. 

   “Setz das Kind ab, du Freak!” schrie der Polizist und kam mit gezogener Waffe näher. Der Schaum stand ihm vorm Mund. 

   Mikey glotzte mich an, mit diesen riesigen, kleinen Augen. Er gab keinen Ton von sich, was mir unheimlich vorkam. Langsam setzte ich ihn auf den Asphalt ab und dachte darüber nach, dass jetzt vermutlich seine Windel nass würde. 

   Aus meinem linken Arm pumpte Schmerz wie eine Flutwelle in mich hinein. 

   Ich musste an Moira denken, wie sie mit Lockenwicklern in unserer Höhle saß und Zeitung laß. Irgendwo in der Ferne meinte ich, einen Löwen brüllen zu hören - wo war ich noch mal?

   Als die Cops sich näherten, schaute der kleine Mikey von unten zu mir auf, direkt in meine Augen. Seine Lippen bewegten sich und er sagte:   “Yeah, Karl - was machst du bloß für Sachen?”   Ich hatte keine Ahnung. Hinter meinen Augen wurde es Nacht. 

 

Zurück
Zurück

8 Schritte zum verkannten Genie

Weiter
Weiter

Der Herd