Die Verschwörung der bunten Socken

Für Marie begann alles mit einem Aktenzeichen, dass sie sich nicht erklären konnte. Sie gehörte sonst nicht zu den Frauen, die viel Wert auf Detektivarbeit legen. Wenn es ein Problem gab, existierten in der Behörde Leute, dich dafür bezahlt würden, sich darum zu kümmern. Deshalb gab sie die Akte einfach weiter, an die Frau ein Stockwerk tiefer. Sollte sie sich damit rumschlagen. Doch dann lag die Akte wieder auf ihrem Tisch. 

   “Was soll das?”, fragte sie ungewollt genervt, als sie am Mittag nach unten ging. “Ich hatte ihnen die Akte geschickt, damit sie sie bearbeiten. Nicht mir wieder bringen.”

   Die Frau aus der Revisionsabteilung trug eine lilafarbene Bluse. Sie wirkte plump und behäbig, vielleicht lag das an dem Brötchen in ihrem Mund. Unter den Armlehnen ihres Bürostuhls quollen Speckröllchen hervor, was sie in Maries Buch sofort zu einem schlechten Menschen machte. 

   “Es fehlen noch Informationen”, antwortete die Frau kauend. “Ich habe ihnen alles aufgeschrieben.”

   Marie hatte die Notizen gesehen. Nicht auszudenken, wie viele Betrugsfälle ihrer Sauklaue schon zum Opfer gefallen waren, man konnte ja nichts lesen. Es handelte sich um Hieroglyphen, da war sich Marie sicher. Ein Archäologe hätte mit ihren Notizen seine Schwierigkeiten gehabt. 

   “Alles, was sie vermissen, liegt bereits im Deckel, Frau-” Sie blinzelte, um den Namen auf dem Tisch lesen zu können. Da die Frau ihr Schild selbst geschrieben hatte, scheiterte sie erneut an den Hieroglyphen. “Liegt bereits im Deckel. So. Hier ist die Akte wieder. Schöne Mittagspause.” Damit stürmte Marie aus dem Büro und holte sich Lunch. 

   Sie liebte Lunch. 

   In der Kantine bewegte sich alles in Zeitlupe, wie es sich für ein Amt gehörte. Man konnte sagen, was man will, doch die Sachbearbeiter hier kannten ihr Handwerkszeug: “Mahlen die Mühlen der Bürokratie zu schnell”, hatte sie mal jemanden sagen gehört, “kommen Unschuldige unter die Räder.”

  Richtig, dachte Marie. Unschuldige so wie sie. 

  Sie beendete gerade die letzten Reste ihres Club Sandwiches (selbstgemacht, natürlich) und sortierte die Brotkanten an den Tellerrand, als ihr etwas auffiel. Einer der Sachbearbeiter aus der Prüfstelle über ihr trug die falschen Socken. 

   Der linke war grün, der rechte blau. Sie passten einfach nicht zusammen. 

   Marie kicherte. Einen Augenblick überlegte sie, ob sie rüber gehen und einen Spruch sagen sollte. Doch es hatte schon seine Gründe, dass sie mittags immer alleine aß. Manchmal konnte sie ihr Mundwerk einfach nicht halten. Ihre Sprüche hatten sie schon in das Eckbüro gebracht, das direkt neben dem Wartungsraum für die Klimaanlage. Niemand verirrte sich freiwillig dorthin. 

   Entschlossen, nicht ihren niederen Instinkten nachzugeben, brachte sie ihr Tablett wieder zurück. Dabei passierte sie den Herren mit den bunten Socken und wunderte sich, dass sein Gesicht gar nicht zu ihm passte. Er lachte nicht. Wollte nicht mal grinsen. Seine Socken schrien “Partyclown!” in Richtung von jedem, der den Fauxpas entdeckte - doch seine Mundwinkel hingen ernst in ihren Ecken. Bestimmt schämte er sich, weil er wusste, was für einen Garderobenschnitzer er sich heute morgen erlaubt hatte. 

   Doch der Mann machte nicht den Eindruck, als würde er sich schämen. Stattdessen schoss er gehetzte Blicke über beide Schultern, bevor er sich eilig mit seinem Tablett verkrümelte. 

   Komischer Kauz. 

   Nach dem Essen ging Marie noch eine Rauchen, wie sie es jeden Mittag nach dem Lunch tat. Draußen vor der Eingangstür sammelten sich um diese Zeit ständig Raucher um den kleinen Aschenbecher, wie Gangster um eine brennende Mülltonne. “Wahrscheinlich haben wir mehr Leben auf dem Gewissen, als jeder Gangster in der Bronx”, dachte sich Marie noch, als sie ein paar Meter entfernt ihren Platz vor der großen Glasscheibe einnahm, an welcher in roten Lettern die Bezeichnung ihres Amtes geschrieben stand. 

   Zum Aschenbecher zu gehen, traute sie sich nicht. Das war schon einmal böse geendet. 

   Marie steckte sich eine ihrer extralangen L1 an und bließ dünnen Rauch in die Herbstluft, als sie aus dem Augenwinkel etwas bemerkte. 

   Socken. Bunte Socken, um genau zu sein. Mehrere Paare an verschiedenen Füßen. 

   Marie linste unauffällig in Richtung der drei Männer und zwei Frauen, die am Aschenbecher versammelt standen. Jeder hielt eine brennende Zigarette in der Hand. Keiner von ihnen führte sie jedoch jemals zu Mund. Seltsam. Die Stengel brannten einfach zwischen den Fingern zu Asche, bis es Zeit wurde, eine neue anzustecken. 

   Plötzlich wollte Marie unbedingt wissen, was dort am Aschenbecher getuschelt wurde. 

   “Ich hoffe, ihr lacht jetzt nicht alle”, sagte sie, als sie näher kam. “Aber ist heute schon Karneval?”

   Die Truppe mit den bunten Socken zuckte synchron zusammen, als wäre ein Schuss gefallen. Dann drehten sie sich vorsichtig in Richtung der Stimme um und als sie Marie sahen, weiteten sich ihre Pupillen. Einen der Sockenträger kannte sie von einem Meeting mit dem Abteilungsleiter von vor ein paar Monaten. Performanceberichte. Er wog an die Hunderfünfzig Kilogramm und hatte Mühe, sein graues Hemd - das in so krassem Kontrast zu seinen Socken stand - in seiner Hose zu behalten. Wenn er eine falsche Bewegung machte, rutschte es aus dem Bund heraus und exponierte das darunterliegende Bauchfett. Ekelhaft. 

   “Es ist März”, sagte der Dicke ernst. “Fasching war schon.”

   “Das war mir klar”, antwortete Marie ärgerlich. “Ich bin ja nicht dumm.”

   “Warum fragst du dann?”

   “Na, wegen den Socken!”, raunte sie. “Warum tragt ihr alle bunte Socken?”

   Einer der beiden Frauen fiel die Zigarette aus der Hand. Sie beilte sich, sie wieder vom Boden aufzulesen, doch das war in dem engen Hosenanzug schwierig. Auch sie hatte Marie schon einmal gesehen, auf dem Flur in der Chefetage, als sie gerade aus dem Büro des Vorstands gekommen war. Unfassbar für so eine Karrierefrau im Nadelstreifenanzug in den hochhackigen Schuhen über dem Nylon noch ein zusätzliches Paar Socken zu tragen. Und dann waren die auch noch bunt. 

  War sie farbenblind? Rot und gelb passten nicht zum blauschwarz des Kostüms. 

   “Hab ich etwas falsches gesagt?”

   “Nein, nein”, versicherte die Frau. 

   “Nein”, pflichtete ihr der Dicke bei. Dann schaute er auf die Uhr und nuschelte, dass die Mittagspause zu Ende sei. Einer nach dem anderen lief an Marie vorbei und verschwand in der großen Drehtür am Eingang. 

   Wütend erdrosselte Marie den brennenden Zigarettenstummel im Aschenbecher. 

  Am nächsten Morgen hatte Marie die ganze Sache schon längst wieder vergessen, bis ihr in der U-Bahn einer der anderen Sachbearbeiter aus ihrer Etage begegnete. Sie erspähte den schlanken Kerl am anderen Ende des Waggons und da fiel ihr der gestrige Tag wieder ein. So früh morgens war die U-Bahn vollbepackt mit Schülern und Studenten, trotzdem gelang es ihr, sich durch die Menge zu drücken und näher an ihren Kollegen zu kommen. Er erkannte sie nicht sofort. Nach einer Sekunde des Nachdenkens quälte sich ein Lächeln auf seine Lippen und er nickte, nur um sich dann wieder den Schatten zu widmen, die am Wagenfenster vorbei huschten. 

   “Eine Frage hätte ich da”, sagte Marie mit einem Blick auf seine Socken. Der linke war braun, der rechte hatte die Farbe von ausgeblichenem Lavendell. “Was hat es mit all den bunten Socken auf sich?”

   Ihr Kollege trug einen Mantel, einen Trenchcoat um genauer zu sein, wie aus den Filmen. Der lange Mantel verdeckte große Teile seines Körpers und unter den Falten fiel es schwer, die tatsächlichen Konturen seiner Gestalt auszumachen. Unter anderen Umständen hätte Marie ihn womöglich attraktiv gefunden, sie mochte schlacksige Kerle. Jetzt wunderte sie sich aber vor allem darüber, dass ihr Kollege angefangen hatte plötzlich zu zittern. 

   “Hör zu, Marie”, flüsterte er angestrengt. “Es ist nicht wie du denkst. Wir sind nicht verrückt.”

   “Wer ist wir?”

   “Na, wir eben.” Er sah sich gequält um, spähte über die Köpfe der Fahrgäste, als könnte ihn jemand belauschen. “Die Sockengarde!”

   “Was?”

   Marie verzog das Gesicht. Sie wollte etwas sagen, doch plötzlich machte der Wagen einen Ruck und die Bremsen quietschten. Vier Dutzend Männer, Frauen und Kinder machten unfreiwillig einen Satz nach vorne. Marie stürzte und musste sich an ihrem Kollegen festhalten. Dabei stolperte sie in seine Arme und spürte etwas hartes an seiner Hose. 

   Etwas sehr hartes. Wie einen Pistolengriff. 

   “Sie sind überall”, flüsterte der lange Kollege und schob Marie von sich. Der Wagen hatte mittlerweile angehalten. Über den Lautsprecher verkündete der Fahrer aus der Kabine, dass Personen auf den Gleisen seien. Dann öffneten sich zischend die Wagentüren und zwei Polizisten traten ein. Sie schauten sich um, als suchten sie jemanden. 

   “Pass auf das Aktenzeichen auf”, flüsterte ihr Kollege ihr zu. “Lies zwischen den Zeilen!”

   Dann duckte er sich und presste sich durch die Tür in den nächsten Waggon. Sie sah ihn nicht wieder und auch später, auf der Arbeit, fand sie nur die verschlossene Bürotür vor, die von ihm übrig geblieben war. 

   Angekommen in ihrem Büro beschloss Marie, dass sie die Schnauze voll hatte. Ihr ging diese Geschichte mit den Socken gehörig auf den Nerv. Als erstes war da die offensichtliche Geschmacklosigkeit der zusammengewürfelten Farben. Sie passten einfach nicht zusammen. Hatten diese Leute schon mal etwas von Stil gehört? Keine Ahnung, was für ein merkwürdiger Modetrend das sein sollte, er kam jedenfalls nicht aus Paris. Das hätte sie gewusst, sie laß die Elle. Vielleicht war das so ein Internetding? Egal. Diese Leute hatten keinen Sinn für Ästhetik und auch wenn das völlig ausreichte, um auf Maries persönlicher Liste der schlechten Menschen zu landen, ihrem Arbeitgeber würde es egal sein. 

   Sie öffnete den ersten Aktendeckel auf ihrem Tisch und begann, den Sachverhalt zu bearbeiten. 

   Was sollten eigentlich die Kunden denken? Ich meine, die Leute die jeden Tag hier her kommen und uns um Hilfe bitten? Sollen die denken, wir machen uns über sie lustig? Indem wir bunte Socken tragen? 

   Marie hatte schon einmal eine Beschwerde wegen unprofessionellen Verhaltens verfasst, über einen ihrer männlichen Kollegen aus Etage 7. Was dort bei der Risikoanalyse für angebrachtes Betragen im öffentlichen Dienst hielten, hatte sie wissen wollen, Jogginghose und Sneaker ging nun wirklich zu weit, aber wie immer stieß sie auf taube Ohren. Noch mehr taube Ohren, als die Leute in Etage 7 ihren Namen hörten und die Beschwerdeschrift in die Finger bekamen. War das die Zeit gewesen, in der sie angefangen hatte mittags alleine zu essen?

  Marie sortierte den Fall weg und nahm den nächsten. Wenn sie ehrlich zu sich sein sollte - und das sollte sie immer, dass hatte sie einmal so mit sich ausgemacht - ging ihr die Sache einfach plump auf den Nerv. Was sollte der Mist? Wozu? Wo lag der Gag, was hatten die Leute davon? Rote Socken, gelbe Socken, grüne Socken, lila Socken, blaue Socken, blaue Socken mit roten Punkten - warum gab es so viele Socken in so vielen verschiedenen Farben?

   Und warum durfte sie bei dem Spaß nicht mitmachen?

   Als es Mittag wurde, hatte Marie ganze zwei Aktendeckel geschafft und fühlte sich dennoch erschöpft wie nach einem Marathon. Sich über Kollegen zu ärgern gehörte für sie zum Leistungssport, es brachte die Pumpe immer auf Trab, aber nicht in einer guten Art und das spürte sie nun. Bevor sie wieder mit ihrem Club Sandwich in die Kantine ging, wollte sie noch wenigstens eine Akte erledigen. 

   Also nahm sie den Deckel vom Stapel, öffnete ihn - und fluchte!

   “Nicht schon wieder.”

   Wütend stampfte Marie los. Sie klemmte sich die Akte unter den Arm, rief den Aufzug, fluchte nochmal und nahm die Treppe. Die dicke Spachtel von gestern hatte ihr denselben Deckel wieder in die Ablage geschoben, ich will kotzen, dachte sie, warum erstickt sie nicht einfach an diesem Fall?

  Kaum, dass sie die Tür aufgeschubst hatte, drehten sich ein halbes Dutzend Köpfe in dem Großraumbüro zu ihr um. Marie scannte den Raum nach der Frau, die sie foltern wollte. Um Himmels Willen, dachte sie, warum ist hier alles so grau? Sind wir in einem Gulag? Dann entdeckte sie den Rotschopf, den sie suchte und stampfte entlang des Pfades, den die quadratischen Arbeitsställe für sie formten. 

   “Was zum Teufel denken Sie eigentlich, wer sie-”

   Marie stoppte mitten im Satz. Ihr blieben die Worte im Hals stecken, denn der Rotschopf drehte sich zu ihr um und lächelte. 

   “Ja, bitte?”, sagte die sehr schlanke, sehr attraktive Frau vor ihr. “Was kann ich für sie tun?”

   “Wo ist Frau...äh…” Verdammt, der Name. “Die Frau, die gestern hier saß? Wie heißt sie noch gleich?”

   “Entschuldigung, wen meinen Sie?”

   “Na, die Frau…”

   “Die hier auf meinem Platz sitzt?” Die dünne Dame lächelte. “Das bin ich. Ich bin die Frau, die hier sitzt. Schon immer.” Das Lächeln wurde breiter. 

   So schnell sie gekommen war, so schnell stürmte Marie auch wieder aus dem Büro. Einatmen, ausatmen, die spielen nur mit dir. Irgendwie fühlte sich Marie wieder in ihre Schulzeit zurück versetzt, warum passierte ihr das immer? Was an ihr provozierte die Menschen, solchen Schabernack mit ihr zu treiben?

  Zurück im Büro warf sie den Deckel auf den Tisch und kramte ihr Sandwich aus der Tasche, als sie einen Zettel aus der Akte ragen sah. Es handelte sich der Farbe nach um ein Antragsformular, dasselbe, dass sie gestern schon in der Hand gehabt hatte. Sie erkannte auch die eckigen Hieroglyphen, welche die verschwundene Frau eine Etage tiefer an die Ränder gekritzelt hatte. Da fiel ihr ein, was ihr Kollege heute morgen gesagt hatte. 

   “Lies zwischen den Zeilen”. Also las sie zwischen den Zeilen. 

   Als sie fertig war, verstaute sie ihr Sandwich wieder in der Tasche und verließ das Büro. Diesmal stampfte sie nicht, nein. Sie lief ganz normal über den Flur, ihre Schritte hallten durch die Etage. Am Ende des Ganges lag das Büro von Herrn Liezard. Er würde die Sache schon richten. 

   “Ich will Beschwerde einlegen, Herr Liezard”, erklärte Marie, nachdem sie eingelassen worden war. “Meine Kollegen verhalten sich unprofessionell.”

   “Schon wieder?” Liezard verstaute einen Mandelbogen in seiner Schreibtischschublade. Mit einer Papierserviette tupfte er sich die Schokolade vom Mund, dann faltete er seine Hände und platzierte sie exakt mittig vor sich auf dem Tisch. Marie mochte ihn nicht besonders. Etwas stimmte mit ihm nicht. 

  “Sie tragen Socken”, sagte sie. “Bunte Socken.”

  “Kein Verbrechen, Frau Kämmers.”

  “Ja, ich weiß, aber ich meine - sie passen nicht zusammen. Farblich. Die Socken, meine ich.”

   “Passiert ihnen das etwa nie?”

   “Was?”

   “Dass sie im Halbschlaf die falschen Socken anziehen. Ich hoffe, Sie nehmen daran keinen Anstoss, Frau Kämmers - aber auch Sie sind menschlich, richtig?”

   “Hach!” Marie seufzte. “Natürlich. Wer ist das nicht?”

   Herr Liezard, dachte Marie, plötzlich. Er blinzelt gar nicht, machen das nicht nur Serienmörder?

   “Das ist nicht alles, Herr Liezard. Da ist mehr. Es geht auch um die Akten.”

   “Das wird ja immer besser.”

   “Ich würde mich freuen, wenn Sie mich ernster nähmen”, sagte Marie. Sie fragte sich, wie wütend sie sich gerade anhörte, denn innerlich würde sie gerne platzen. “Es gibt da diese Frau, eine Etage tiefer.”

   “Trägt die auch bunte Socken?”

   “Weiß ich nicht, sie ist verschwunden.”

   “Spurlos?”

   “Gestern war sie noch da, jetzt sitzt jemand anders dort.”

   “Ah so”, sagte Herr Liezard und nickte. “Verstehe. Haben Sie schon gegessen, Frau Kämmers?”

   “Ich bin nicht hungrig.”

   “Dürfte ich Sie trotzdem bitten, jetzt in die Mittagspause zu gehen?”

   Marie ballte die Faust. Konnte sie ihren Chef ins Gesicht schlagen, ging das? Sie würde nämlich wirklich gerne. “Ich meine es ernst”, wiederholte sie. “Die Frau ist weg, keine Ahnung wohin. Ist auch egal, ihre Akte ist noch da. Und die ist voller Kritzeleien!”

   Herr Liezard ließ sich zurück in den Stuhl sinken, nachdem er Anstalten gemacht hatte, aufzustehen. Sein Blick verfinsterte sich und statt seine Hände wieder vor sich auf dem Tisch zu falten, legte er diesmal die Fingerspitzen aneineinander, um eine Pyramide unter seinem Kinn zu bilden. 

   “Kritzeleien sagen Sie”, haucht er. “In unseren Akten? Das geht natürlich nicht.”

   “Ebent.” Marie verschränkte die Arme vor der Brust. Ja, das fühlte sich gut an. 

   “Darf ich fragen”, sagte Herr Liezard, “was in diesen Kritzelein stand?”

   “Ich hab gar nicht gesagt, dass da etwas stand.”

   “Sein Sie nicht albern, Frau Kämmers. Sie sind nicht die erste, von der ich sowas höre. Wer, sagten Sie, gab ihnen die Akte?”

   “Hab mir den Namen nicht gemerkt.”

   “Schade. Und?”

   Marie holte tief Luft. Auf dem Weg zu seinem Büro hatte sie sich zwar überlegt, wie sie mit Liezard umgehen sollte, wenn er ihr nicht zuhören wollte. Doch wie sie den irrwitzen Inhalt des Gekritzels wiedergeben sollte, den sie in der Akte gelesen hatte - ohne, dass ihr Chef sie für verrückt hielt -, darüber hatte sie sich noch keine Gedanken gemacht. 

   “Es ist ein Code”, sagte sie ernst. “Ich bin gut in Sudokus, deshalb habe ich ihn geknackt.”

   “Ein Code? Interessant, fahren sie fort.”

   “Den eigentlichen Inhalt habe ich nur schwer verstanden. Ich bin mir nicht mal sicher, dass er überhaupt einen Sinn ergibt, jedenfalls für mich nicht. Aber es geht schließlich um Vandalismus von Prozessakten.”

   “Keine Angst, für verrückter kann ich Sie nicht mehr halten, Frau Kämmers.”

   Er lachte. Marie lachte mit, zögerlich. 

   “Eidechsen war eines der Wörter. ‘Die Chefetage ist voller Eidechsen’, ja, das war es glaube ich. Alles stand zwischen den Zeilen, ganz eng und gedrängt und dann auch noch mit so komischen Hieroglyphen geschrieben. Ich hätte es fast nicht entdecken, ich dachte, die Frau von unten hat einfach eine hässliche Handschrift. Aber dann hab ich die Muster erkannt und begriffen.”

   Liezard verzog das Gesicht. “Der Vorstand ist sicher kaltblütig”, sagte er, “aber Eidechsen geht nun doch zu weit. Stand da noch mehr?”

   “Ja”, antwortete Marie. “Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich es nicht lieber für mich behalten soll.”

   “Warum?”

   “Weil es wirklich bescheuert klingt.”

   Liezard sprach ihr Mut zu und schließlich brachte Marie es über die Lippen. Sie erzählte ihm von der Notiz auf Seite 4, von den Symbolen am Seitenrand, die nur Sinn ergaben, wenn man das Papier um neunzig Grad drehte. Erst glaubte sie, sich doch alles nur eingebildet zu haben. Womöglich war die erste Nachricht auf Seite 1 einfach ein Zufall gewesen? Wer konnte das schon sagen, bei der Sauklaue? Dann aber verstand sie das Ende und nach allem, was sie die letzten beiden Tage gesehen und gehört hatte, fand sie, dass jemand in der Chefetage davon hören musste. Im besten Fall erlaubte sich da jemanden einen Scherz mit ihr - im schlimmsten Fall litt mindestens die Hälfte der Namen, die vorne auf dem Aktendeckel standen, an einer heftigen Psychose. 

   “‘Sie können dich nicht sehen’”, zitierte Marie den Absatz. “‘Sie können dich nicht sehen, wenn-’”

   “Wenn was, Frau Kämmers?”

   Marie seufzte. “‘Wenn du bunte Socken trägst.’”

   Liezard lachte. Ja, sagte er, das passte. Eidechsen taten sich mit Farben schwer, das war richtig. Er stand auf und reichte ihr die Hand, um sich zu entschuldigen. 

   “Sie haben es wirklich nicht leicht hier, oder, Frau Kämmers?”

   “Wieso?”

   “Lassen Sie sich das nicht zu Herzen gehen, Frau Kämmers. Vielleicht versuchen Sie mal, sich mit einen paar Ihrer Kollegen anzufreunden, wie wäre das? Dann passiert so etwas auch nicht mehr.”

   “Passiert was nicht?”

   “Na, dass man Sie so auf den Arm nimmt, Frau Kämmers. Schöne Mittagspause wünsche ich Ihnen.”

Von Herrn Liezard hörte Marie in der darauffolgenden Woche erst am Freitag. Sie hatte ein Foto von dem Aktendeckel gemacht, einfach so, quasi als Beweis, und dann angefangen, die Namen im Internet zu suchen. Die letzten zehn waren alles Kollegen gewesen, die sie mit bunten Socken an den Füßen gesehen hatte. Ihr langer Kollege aus der U-Bahn war einer der letzten drei gewesen. Sie ging zu jedem von ihnen hin, jedenfalls versuchte sie das. Doch keinen traf Marie persönlich an. 

   “Herr Willems ist im Urlaub.”

   “Frau Meier hat gekündigt.”

   “Frau Engels arbeitet hier nicht mehr.”

   “Können Sie nochmal zurückrufen, Herr Knauf ist krank.”

   “Frau Fischer? Sorry, sagt mir leider nichts.”

   Und schließlich: “Tut mir leid, Herr Michels hatte einen Autounfall. Er weilt nicht mehr unter uns.”

   Jeder einzelne. Jeder einzelne der Namen war verschwunden. 

   Das machte Marie stutzig. 

   Bunte Socken zu tragen fing sie allerdings erst an, als Liezard sie am Freitag im Büro abholte. “Sie ziehen um, Frau Kämmers”, sagte er freundlich. Trotzdem blinzelte er nicht. Marie achtete genau darauf.

   “Wohin denn?”

   “Wohin sie wollen, Frau Kämmers.” Er machte eine ausladende Geste in Richtung des Flurs. “Sie haben die freie Auswahl.”

   “Wo sind denn alle hin?”, wollte Marie wissen, als sie die leeren Büros sah. Liezard antwortete nicht. 

   Als sie am nächsten Tag die Socken trug, einer blau, einer grün, und an Liezard auf dem Flur vorbei ging, ignorierte er sie einfach. Er registrierte sie nicht einmal. 

   Fast, als könnte er sie gar nicht sehen. 

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